Traditionelles Shorin Ryu Karate
  

Die Geschichte des Shorin Ryu Karate

少林流空手の歴史

Ausarbeitung zur Dan-Prüfung in Chatan, Okinawa am 6.10.2023, von Horst Bresele


1. Frühgeschichte


Da ich mich in an dieser Stelle auf die Geschichte und Entwicklung des Shorin-Ryu Karate beschränken möchte, bleiben westliche Kampfsysteme hier unberücksichtigt. Auch bei den östlichen Kampfsystemen kann nur ein kleiner Ausschnitt der Gesamtperspektive präsentiert werden. Unter den Kampfsystemen wird das Karate gerne durch die Verwendung von Schlag-, Stoß- und Tritttechniken, sowie Block- und Fußfegetechniken charakterisiert.
Prinzipiell kann man feststellen, dass sich die Kampfkünste in Asien seit ihrer Entstehung in Indien vor ca. 2500 Jahren immer weiter nach Osten verbreitet haben. In China fanden sie in nördlicher Richtung über Korea ihren Weg nach Japan, während sie sich in südlicher Richtung nach Okinawa verbreiteten. Auch die Kampfkünste Südostasiens bleiben in dieser kurzen Analyse unberücksichtigt, da der Schwerpunkt der Entwicklung des Shorin-Ryu Karate in Okinawa zu finden ist.


In der indischen Provinz Kerala entwickelte sich mit dem Kalaripayat eine der ältesten Kampfkünste. Als Trainingsort dienten buddhistische Klöster, in denen sowohl religiöse Studien wie auch physisches Training zur Erhaltung der körperlichen Fitness während der Meditationen bzw. zur Selbstverteidigung auf Reisen durchgeführt wurden. Mit dem Aufbruch des legendären Bodhidarma, des buddhistischen Mönchs Daruma Taishi, um ca. 500 n. Chr. verbreiteten sich Religion und Kampfkunst aus Indien nach China, wo sie z.B. die meditative und kriegerische Ausrichtung des Shaolin-Klosters angeregt haben. Dort wurde nicht nur der Chan-Buddhismus (jap. Zen) begründet, sondern die Mönche auch in körperlichen Übungen unterwiesen. [1; 2].


Beim Shaolin-Kloster handelt es sich um ein buddhistisches Kloster im Songshan-Gebirge in der chinesischen Provinz Henan. Chinesisch shaolin-si bzw. japanisch shorin-ji (少林寺) bedeutet der Name „Klosters des jungen / kleinen Waldes“. In seiner über 14 Jahrhunderte dauernden Geschichte spielte es sicher eine grundlegende Rolle bei der Entwicklung des chinesischen Boxens Quan-fa (modern: Kung-fu), des Okinawa-te und des Karate. Und aus den einfachen körperlichen Übungen für die Mönche zum Ertragen der langen Meditationsphasen entstand die Grundlage vieler chinesischer Kampfkunststile. Da Karate um seine chinesischen Wurzeln weiß, betrachtet es sich gerne ebenfalls als Nachfahre dieser Tradition (Bodhidharma, Chan, Shaolin). [1; 2].


2. Entwicklung auf Okinawa


Karate in seiner heutigen Form entwickelte sich auf der pazifischen Kette der Ryukyu-Inseln, insbesondere auf der Hauptinsel Okinawa. Diese liegt ca. 500 Kilometer südlich der japanischen Hauptinsel Kyushu zwischen Südchinesischem Meer und Pazifik. Heute ist die Insel Okinawa ein Teil der gleichnamigen Präfektur Japans. Mit dem Begriff Okinawa-te (沖縄手)wird ein Kampfsystem mit bloßer Hand bezeichnet, das seit ca. dem 18. Jahrhundert auf Okinawa trainiert wird. Dabei handelt es sich um eine Verbindung einheimischer Kampftechniken mit dem chinesischen Quan-fa. Unberücksichtigt bleiben hierbei alle Aspekte der Waffenkünste (jap. „Kobudo“), die auf Okinawa stets eine große Rolle in Verbindung mit den waffenlosen Systemen (jap. „Te“) gespielt haben. Über chinesische Siedlungen auf Okinawa wurde tode - die „chinesische Hand“ bzw. „Hand der Tang“ verbreitet, wobei in letzterer Bezeichnung die chinesische Tang-Dynastie (618 - 907 n. Chr.) anklingt. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Schreibweise „chinesische Hand“ mit einer anderen Lesung in „leere Hand“ (jap. karate) umgewandelt. [1; 2]


Der japanische Einfluss auf Okinawa reicht lange zurück. Mit buddhistischen Lehrern und Abgesandten aus Nara, dem Zentrum Japans im 7. Jahrhundert, kamen nicht nur religiöse Ideen sondern auch Sprache, kulturelle Traditionen und nicht zuletzt Waffenkünste auf die Inselwelt der Ryukyu-Inseln. Dort vermischten sie sich mit stets vorhandenen chinesischen Einflüssen. In dieser Kombination entwickelte sich auf den Inseln und insbesondere auf der Hauptinsel Okinawa eine einzigartige Verbindung der waffenlosen und Waffen verwendenden Kampfkünste. Die gegenseitige Verflechtung von Karate und Kobudo hat ihren Ursprung in dieser als „Zeit der göttlichen Vorfahren“ bezeichneten Ära von ca. Anfang des 7. Jhds. bis Ende des 12. Jhds. [3-5]


Das Schloss von Shuri, Hauptgebäude (vor dem Brand 2019) [B1]


Die unterschiedliche wirtschaftliche Bedeutung der Inseln führte dazu, dass sie ständig von Unruhen und Aufständen heimgesucht wurden. Im 14. Jhd. brach Okinawa in drei Reiche auf, die in gegenseitiger Konkurrenz um Vorherrschaft auf politischer Ebene bzw. im Handel mit China, Korea, Japan und Südostasien rangen. Nach der Vereinigung zu Beginn des 15. Jhds. begann ein weiteres goldenes Zeitalter für die Inselregion. Der Einfluss Okinawas konnte sich auf die Inseln nördlich und südlich davon ausdehnen. Die urbanen Zentren der Insel, Naha, Shuri und Tomari, waren damals wichtige Umschlagplätze für Waren und boten damit ein Forum für den kulturellen Austausch mit dem chinesischen Festland. Im Jahre 1422 gelang es König Sho Hashi, die Inseln zu einen. Zur Erhaltung des Friedens in der aufständischen Bevölkerung verbot er daraufhin das Tragen jeglicher Waffen. Seit 1477 regierte sein Nachfolger Sho Shin und bekräftigte die Politik des Waffenverbotes seines Vorgängers. Das Verbot betraf aber natürlich nicht den Adel und den Hofstaat. Um die einzelnen Regionen zu kontrollieren, verpflichtete er sämtliche Fürsten zum dauerhaften Aufenthalt an seinen Hof in Shuri - eine Kontrollmöglichkeit, die später von den Tokugawa-Shogunen kopiert wurde. Durch das Waffenverbot erfreute sich die waffenlose Kampfkunst des Okinawa-Te wachsender Beliebtheit, und viele ihrer Meister reisten nach China, um sich dort durch das Training des chinesischen Quan-fa fortzubilden. [6; 7; 9; 11]


Besonderen Einfluss auf die Entwicklung der Kampfkünste in Okinawa hatte sicher die Invasion des japanischen Satsuma-Clans aus Kyushu zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Sie verschärften das Waffenverbot dahingehend, dass sogar der Besitz jeglicher Waffen – selbst Zeremonialwaffen – unter schwere Strafe gestellt wurde. Dieses Waffenverbot wurde als katanagari („Jagd nach Schwertern“) bezeichnet. Schwerter, Dolche, Messer und jegliche Klingenwerkzeuge wurden systematisch eingesammelt. Dies ging sogar so weit, dass einem Dorf nur ein Küchenmesser zugestanden wurde, das mit einem Seil an den Dorfbrunnen (oder an einer anderen zentralen Stelle) befestigt und streng bewacht wurde. [5; 7; 11]


Das verschärfte Waffenverbot sollte Unruhen und bewaffnete Widerstände gegen die neuen Machthaber unterbinden. Jedoch hatten japanische Samurai das Recht der sogenannten „Schwertprobe“, dem zufolge sie die Schärfe ihrer Schwertklinge an Leichen, Verwundeten oder auch willkürlich an einem Bauern erproben konnten. Die Annexion Okinawas führte somit zu einer gesteigerten Notwendigkeit zur Selbstverteidigung, zumal damals auf dem feudalen Okinawa Polizeiwesen und Rechtsschutz fehlten, die den Einzelnen vor solchen Eingriffen schützen konnten. Der Mangel an staatlichen Rechtsschutzinstitutionen und der notwendige Widerstand gegenüber Willkürakten der neuen Machthaber begründeten also eine Entwicklung des Kampfsystems Te zur Kampfkunst Karate. [5; 7; 9; 11]


Währenddessen entwickelte sich parallel in der bäuerlich geprägten Bevölkerung das Kobudo, das Werkzeuge und Alltagsgegenstände mit seinen speziellen Techniken zu Waffen verwandelte. Kobudo und seine aus Alltagsgegenständen und Werkzeugen hergestellten Waffen konnten schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht verboten werden, da sie für die Versorgung der Bevölkerung sowie der Besatzer schlicht notwendig waren. Die waffenlose Verteidigung wurde auf Effizienz ausgelegt, d.h. es wurden Techniken, die unnötiges Risiko bargen – wie beispielsweise Fußtritte im Kopfbereich – nicht trainiert. So lässt sich in diesem Zusammenhang von einer Auslese der Techniken sprechen. [5; 9; 11]


Allerdings war es sehr schwer, mit oder ohne diese Waffen einem ausgebildeten und gut bewaffneten Krieger mit Pferd, Rüstung, Bogen und Samurai-Schwert im Kampf gegenüberzutreten. Deshalb entwickelte sich in Okinawa-Te und Kobudo, die damals eng miteinander verknüpft gelehrt wurden, die Maxime, möglichst nicht getroffen zu werden und gleichzeitig die wenigen Gelegenheiten, die sich boten, zu nutzen, den Gegner mit einem einzigen Schlag zu töten. Dieses für das Karate spezifische Prinzip heißt ikken hissatsu. Die Auslese von möglichst effizienten Kampftechniken und das Ikken-Hissatsu-Prinzip brachten dem Karate den (ungerechtfertigten) Ruf ein, ein aggressives Kampfsystem, ja sogar die „Härteste aller Kampfsportarten“ zu sein. [5; 9; 11]


Bäuerliche Arbeitsgeräte in einem Freilichtmuseum auf Okinawa; Dreschflegel (rechts) und Haltegriffe für den Mühlstein (links und Mitte). Aus ihnen entwickelten sich die Waffen des Kobudo. [B2]


Die tödliche Wirkung dieser Kampfkunst führte dazu, dass die japanischen Besatzer erneut das Verbot ausdehnten, und das Lehren von Okinawa-te ebenfalls unter drakonische Strafe stellten. Der Hass auf die japanischen Besatzer führte gewiss zu einem neuen Aufschwung im Training der Selbstverteidigungstechniken in Karate und Kobudo. Natürlich wurden die Techniken im Geheimen trainiert und erst im 20. Jahrhundert – lange nachdem Okinawa den Status einer japanische Provinz erhielt – wurde beschlossen, die Kampfkunst Okinawas „Ausländern“ zu offenbaren. So wird seit 1901 das Okinawa-te auch in Schulen unterrichtet. Dabei hatten sich im Jahrhundert zuvor drei lokale Ausprägungen herausgebildet, die nach den Trainingsorten auf Okinawa benannt wurden: Shuri-te, Tomari-te und Naha-te. Daraus hervorgehend bildeten sich die Stile Shorin-Ryu (Region Shuri und Tomari) und Shorei-Ryu (Region Naha), wobei die rein praktischen Verteidigungstechniken mit philosophischen Konzepten der Kampfkünste angereichert wurden [1; 2].


3. Shorin-Ryu und Shorei-Ryu


Durch das Training im Geheimen gibt es keine Belege für eine klar strukturierte Entwicklung in die verschiedenen Stile auf Okinawa. Auch Karate-Meister waren nicht öffentlich bekannt oder als chinesische Gesandte auf der Insel, wie z.B. Ku-shan-ku, der in einer öffentlichen Vorführung am Hof 1761 die geschickte Verwendung von Händen und Füßen in der Selbstverteidigung demonstrierte. Die Kata Kushanku, die sich aus seinen Techniken entwickelte und heute als Kanku bezeichnet wird, wird z.B. im Matsubayashi-Ryu (Shuri-te) verwendet. Bevor im nächsten Abschnitt genauer auf die Meister des Okinawa Karate eingegangen wird, vorab noch einige Bemerkungen zu den beiden Hauptstilen Shorin-Ryu und Shorei-Ryu. [6]


Der Unterschied zwischen den beiden Stilen geht nach Nagamine Shoshin auf die verschiedenen Bewegungs- und Atmungskonzepte zurück. Im Karate des Shuri-te werden die Füße mehr geradlinig vor- und zurückbewegt, die Atmung folgt der natürlichen Atmung im Training. Im Karate des Naha-te bewegen sich die Füße halbkreisförmig und die Atmung erfolgt eher künstlich im Gleichklang mit der Bewegung. Moderne Stile des Naha-te sind Goju-Ryu und Uechi-Ryu. Allerdings wird diese Unterscheidung der Stile durchaus unterschiedlich bewertet. Der Gründer der japanischen Karate Vereinigung, Funakoshi Gichin, spricht eher von schnellen Bewegungen im Shuri-te, das damit geeigneter für kleine Personen sei. Das Naha-te sei eher für große und schwere Personen konfiguriert. Moderne Stile des Shuri-te sind u.a. Matsubayashi-Ryu, Kobayashi-Ryu, Wado-Ryu und Shito-Ryu. [6; 8]


Ein kurzer Einschub muss vielleicht noch die Verwendung unterschiedlicher Bezeichnungsweisen klären. Bedingt durch den Import chinesischer Schriftzeichen in die japanische Sprache gibt es mehrere Lesemöglichkeiten bzw. Schreibweisen für Schriftzeichen. Die ursprüngliche Schreibweise von 少林流 shorinryu bedeutet „kleines Wäldchen / wenig Wald“ und ist eine direkte Übersetzung des chinesischen Wortes shaolin. 流ryu steht in der japanischen Sprache für eine Stilrichtung. Allerdings kann man in der japanischen Sprache mit gleichlautenden Lesungen „spielen“. So wird auf Okinawa Matsubayashi-Ryu und Shorin-Ryu gleichermaßen verwendet, da die Zeichen 松 matsu für Pinie und 林 hayashi für Wäldchen in Kombination aus als 松林 matsubayashi oder shorin gelesen werden können. Eine andere Lesung für 小林流 ist kobayashiryu statt shorinryu. Ähnliches gilt für die Bezeichnung des Karate insgesamt. Die „alte“ Lesung 唐手 tode oder karate im Sinne von „chinesischer Hand“ wurde von Funakoshi Gichin in die homophone Schreibweise 空手 karate verändert – die Lesung blieb erhalten, aber die Bedeutung änderte sich auf „leere Hand“. In dieser Ausarbeitung fallen im Einklang mit der europäischen Textumschrift Groß-/Kleinschreibungen und Längungszeichen in den japanischen Bezeichnungen weg (z.B. ryu statt ryû oder Tokyo statt Tôkyô). Und die Nennung japanischer Namen erfolgt in asiatischer Tradition mit Familiennamen vor dem Vornamen. Außerdem gibt es keinen Unterschied zwischen Einzahl und Mehrzahl, d.h. z.B. 1 Kata und 10 Kata.


Weil die Kunst des Schreibens in der Bevölkerung damals kaum verbreitet war und man aus Geheimhaltungsgründen dazu gezwungen war, wurden keinerlei schriftliche Aufzeichnungen angefertigt, wie das in chinesischen Kung-Fu-Stilen manchmal der Fall war. Man verließ sich auf die mündliche Überlieferung und die direkte Weitergabe. Zu diesem Zweck bündelten die Meister die zu lehrenden Kampftechniken in didaktischen zusammenhängenden Einheiten zu festgelegten Abläufen oder Formen. Diese genau vorgegebenen Abläufe werden als Kata bezeichnet. Um dem Geheimhaltungszweck der Okinawa-te Rechnung zu tragen, mussten diese Abläufe vor Nicht-Eingeweihten der Kampfschule (also vor potenziell Ausspähenden) chiffriert werden. Dabei bediente man sich als Chiffrierungscode der traditionellen Stammestänze (踊りodori), die den systematischen Aufbau der Kata beeinflussten. So besitzt jede Kata noch bis heute ein strenges Schrittdiagramm (embusen). Die Effizienz der Chiffrierung der Techniken in Form einer Kata zeigt sich bei der Kata-Demonstration vor Laien: Für den Laien und in den ungeübten Augen des Karate-Anfängers muten die Bewegungen befremdlich oder nichtssagend an. Die eigentliche Bedeutung der Kampfhandlungen erschließt sich einem erst durch intensives Kata-Studium und der „Dechiffrierung“ der Kata. Dies erfolgt im Bunkai-Training. Eine Kata ist also ein traditionelles, systematisches Kampfhandlungsprogramm und das hauptsächliche Medium der Tradition des Karate. [1; 2; 11-14]


Die beiden Ausprägungen Shorin-Ryu und Shorei-Ryu unterscheiden sich naturgemäß in den verwendeten Kata und ihren Auslegungen. Diese wurden stark durch die Begründer der jeweiligen Stilrichtungen geprägt, weshalb im nächsten Abschnitt auf die wichtigsten Persönlichkeiten der Shorin-Ryu eingegangen werden soll.


4. Meister des Shorin-Ryu


In früher Zeit gibt es wenig Informationen über die Karate-Meister auf Okinawa, in späterer Zeit waren die Einflüsse der Meister auf- und untereinander sehr groß. So lernten die Schüler stets von verschiedenen Meistern unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Stile. Damit ist eine Auflistung oder Übersicht in linearer Struktur, wie im Westen bevorzugt, völlig unmöglich. In der folgenden Übersicht werden daher einige Hauptaspekte herausgegriffen und besondere Persönlichkeiten aufgelistet.


Der erste noch namentlich bekannte Meister des Tode war vermutlich Chatan Yara, der etliche Jahre in China lebte und dort die Kampfkunst seines Meisters erlernte. Ein erster Meister des okinawanischen Karate ist sein Schüler Sakugawa Shungo. Er wurde wahrscheinlich 1733 in Shuri als Teruya (Chikudon Peichin) Kanga geboren und bezeichnete sich später selbst als Tode Sakugawa, als er in den Rang eines Peichin (Dienst des Königs) erhoben wurde. Er erlernte das Karate auch von Ku-shan-ku, einem chinesischen Experten, und gründete in Shuri eine erste Karate-Schule. Er soll auch mehrmals nach China gereist sein und unterrichtete ebenfalls den Umgang mit dem Bo (langer Stock) im Kobudo. Zu seinen wichtigen Schülern gehörten Okuda Satunushi, Makabe Udun und Matsumoto Chikudon. Aber zu besonderer Bedeutung entwickelte sich sein Schüler Matsumura Sokon, den er als 10-jährigen im hohen Alter lehrte. [1; 2; 7; 14]


Es war Matsumura, der das Shuri-te zum Shorin-Ryu entwickelte.  Bushi Matsumura Sokon wurde wahrscheinlich 1792 in Shuri geboren, in der Ortschaft Yamakawa. Bereits seit 1816 gehörte er zur Leibwache des Königs von Ryukyu und übte diese Funktion unter den letzten drei Königen der Insel aus. Mit seiner großen Begabung in den Kampfkünsten und seinen entwickelten geistigen Fähigkeiten wurde er bereits zu Lebzeiten zur Legende. Er gab den Kampfkünsten auch die philosophischen Hintergründe, derer sie auf Okinawa bis dahin entbehrten. Als Abgesandter der Hofes entwickelte er seine Kenntnisse auf Reisen nach Kyushu und China weiter. So entstammt z.B. die Kata Hakutsuru („weißer Kranich“) einer dieser Reisen. Die Kata, die er weiter in seinem Stil unterrichtete, waren Naihanchi (modern: Tekki), Chinto, Passai (modern: Bassai), Seisan, Kushanku (modern: Kanku), Chanan und Gojushiho. Man sagt ihm dabei sogar die Entwicklung der Kata Passai und Chanan nach, was aber nicht eindeutig belegt werden kann. Unter seinen Schülern befinden sich viele berühmte Namen und solche, die selbst zu Stilgründern wurden: Kyan Chotoku, Yabu Kentsu, Itosu Yasutsune, Azato Anko u.a. [1; 2; 7; 14]


Itosu Yasutsune (1831-1915) wurde auch Itosu Anko („Eisenpfeil“) genannt. Er machte das Training des Karate öffentlich und strukturierte es dank seiner Auffassungen von Technik und Pädagogik zusammen mit Higanonna Kanryu von der chinesischen Hand Tode in die leere Hand Karate um. Sein Schüler Funakoshi Gichin vollendete diese Entwicklung in Japan. Itosu war Sekretär beim letzten König von Okinawa bis zur Auflösung der Monarchie Ende der 1870er Jahre, als Okinawa als neue japanische Provinz in das moderne Japan der Meiji-Zeit integriert wurde. Er begann erst im Alter von 50 Jahren, Karate zu unterrichten und hatte einen besonderen Ruf als ruhiger und entschlossener Kämpfer, der für seine Griffstärke berühmt war. Als großer Spezialist für Kata entwickelte er mit den Formen des Karate ein pädagogisches Mittel, durch das der Geist den Körper beherrschen könne. Aus ebenfalls pädagogischen Gründen entwickelte er bis ca. 1905 seine fünf Pinan-Kata (modern: Heian). Er wollte die Jugendlichen, die sich zu den Sportarten des Westens hingezogen fühlten, für Karate begeistern – und damit das Karate als Kunst davor bewahren, als nutzlos und altmodisch in Vergessenheit zu geraten. So war er auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass zu Beginn des 20. Jhds. Karate in den Schulen in Okinawa unterrichtet werden konnte. Um die Verletzungsgefahr zu verringern und das Karate an den modernen Sport anzupassen, änderte er dabei Techniken ab (z.B. statt der offenen Hand Fausthaltungen) oder passte Trainingskonzepte an (z.B. bessere Entwicklung der Muskelkraft). Taktik und Methodik des Kämpfens machten in den Kata somit Platz für gesundheitliche Aspekte wie Haltung, Beweglichkeit, Gelenkigkeit, Atmung, Spannung und Entspannung. Unter seinen Schülern befanden sich u.a. Persönlichkeiten wie Kyan Chotoku, Funakoshi Gichin und Mabuni Kenwa, die hier exemplarisch vorgestellt werden sollen. [1; 2; 7; 14]


Kyan Chotoku (1870 – 1945) wurde im kleinen Ort Gibo in Shuri geboren. Als Sohn eines strengen Vaters, der als Bewahrer des königlichen Siegels am Hofe angestellt war, reiste er mit ihm nach Tokyo – in Folge des Exils des letzten Königs von Okinawa. Er war von kleiner Statur und wirkte schmächtig. Er wurde dadurch berühmt, dass er eine extreme Schnelligkeit entwickelte und harte Schläge auf das Makiwara erteilen konnte. Er verbrachte sein ganzes weiteres Leben damit, nach seiner Rückkehr nach Okinawa das Karate-do in einer kleinen Ortschaft zu verbreiten. Er gründete den Stil Sukunai Hayashi-Ryu (Schule des kleinen Waldes). Er überlebte zwar die Schlacht um Okinawa, starb jedoch wenig später im September 1945 vom Hunger geschwächt. Zu seinen Schülern gehörte u.a. Shimabukuru Zenryo (1904-1969), der das Chubu Shorin-Ryu leitete und 1962 das Dojo Seibukan gründete. Dort sollte das Alte und das Moderne miteinander „versöhnt“ werden. Er unterrichtete nach dem zweiten Weltkrieg auch amerikanische Soldaten auf Okinawa, was der Verbreitung und dem Bekanntheitsgrad des Stils zugute kam. Das Dojo wird von seinem Sohn Shimabukuru Zenpo (*1943) weitergeführt, der in den 1960er in den USA unterrichtet hatte. Ein weiterer Schüler war z.B. Nagamine Shoshin (1907 - 1997). [1; 2; 7]


Funakoshi Gichin (1868 – 1957) wurde in der Ortschaft Yamakawa in Shuri geboren. In den Jahren von 1906 bis 1915 bereiste Funakoshi mit einer Auswahl seiner besten Schüler ganz Okinawa und hielt öffentliche Karate-Vorführungen ab. In den darauffolgenden Jahren wurde der damalige Kronprinz und spätere Kaiser Hirohito Zeuge einer solchen Aufführung und lud Funakoshi, der bereits Präsident des Ryukyu-Ryu Budokan - einer okinawanischen Kampfkunstvereinigung - war, ein, bei einer nationalen Budo-Veranstaltung 1922 in Tokyo sein Karate in einem Vortrag zu präsentieren. Dieser Vortrag erfuhr großes Interesse, und Funakoshi wurde eingeladen, seine Kunst im Kodokan praktisch vorzuführen. Die begeisterten Zuschauer, allen voran der Begründer des Judo, Kano Jigoro, überredeten Funakoshi, am Kodokan zu bleiben und zu lehren. Zwei Jahre später, 1924, gründete Funakoshi sein erstes Dojo – nachdem er 1922 in seiner Funktion als Schullehrer pensioniert worden war. In Tokyo verbreitete er zusammen mit Motobu Choki das moderne Karate in Japan. Er gründete dort die Schule „Shotokan“ und entwickelte das Karate in seiner modernen Form weiter. Allerdings unterrichtete er kein Kobudo, obwohl es ihm aus Okinawa bekannt war. Dafür modernisierte er die Namen und Inhalte der Kata, die er aus Karate nach Japan mitbrachte, um sie dem Zeitgeist in Japan entsprechend verbreiten zu können. Aus Pinan wurde Heian, aus Naihanchi wurde Tekki, aus Passai wurde Bassai, aus Wanshu wurde Enpi, aus Rohai wurde Meikyo, aus Chinto wurde Gankaku, aus Kushanku wurde Kanku, aus Seisan wurde Hangetsu usw. Dabei änderten sich oft auch die Bedeutungen, wie an diesem Beispiel erläutert werden soll: aus dem Namen Kushanku des chinesischen Gesandten wurde 観空 kanku – wobei kan für „betrachten“ und ku für „Himmel“ oder „Leere“ stehen kann. Dies hebt die philosophischen Aspekte der Kata-Konzeption heraus und steht beispielhaft für die Umgestaltung von der Technik (jitsu) zur Philosophie (do). Er verstand das Karate neben der reinen körperlichen Ertüchtigung aber auch als Mittel zu Charakterbildung. Damit verewigte er sich als Gründer des (Shorin-Ryu) Shotokan und des modernen Karate in Japan und (nach dem zweiten Weltkrieg) in der westlichen Welt. [1; 2; 7; 8; 11; 13]


Mabuni Kenwa (1889 – 1953) wurde ebenfalls in Shuri geboren. Er arbeitete als Polizist und widmete sich nach seiner Pensionierung in den späten 20ern der Verbreitung des Karate in Osaka. Sein erstes Dojo errichtete er noch im Garten seines Hauses. In Osaka gründete er das Dojo Yoshukan, unterrichtete aber parallel auch an japanischen Universitäten. Er gründete die Stilrichtung Shito-Ryu. Er sammelte in seinem Leben unzählige Kata, die er an seine Schüler weitergab. Wie sein Trainer Itosu Anko stütze auch Mabuni seine Untersuchungen der Kampfkünste auf das chinesische Werk Bubishi. Er machte es der Öffentlichkeit zugänglich und veröffentliche auf dieser Grundlage 1934 sein eigenes Buch [1; 2; 9; 15]


In dieser Zeit zwischen 1900 und dem zweiten Weltkrieg fand die „Japanisierung“ des okinawanischen Karate zum modernen Karate statt. Es wurde mehr Wert auf Disziplin im Unterricht gelegt. Nach dem Vorbild des bereits im Judo etablierten Systems wurde im Laufe der dreißiger Jahre dann der Karate-Gi sowie die hierarchische Einteilung in Schüler- und Meistergrade, erkennbar an Gürtelfarben, im Karate eingeführt – mit der auch politisch motivierten Absicht eine stärkere Gruppenidentität und hierarchische Strukturen zu etablieren. Über die Schulen kam Karate auch bald zur sportlichen Ertüchtigung an die Universitäten, wo damals zum Zwecke der militärischen Ausbildung bereits Judo und Kendo gelehrt wurden. Diese Entwicklung, die die okinawanischen Meister zur Verbreitung des Karate billigend in Kauf nehmen mussten, führte zur Anerkennung von Karate als „nationale Kampfkunst“ - Karate war damit endgültig japanisiert.  [9; 11; 13]


5. Ausblick: Karate nach dem zweiten Weltkrieg


Allen drei letztgenannten Meistern des vorhergehenden Abschnitts wurde als Kind eine schwächliche Konstitution und eine kurze Lebenserwartung nachgesagt. Mit und trotz dieser Schwächen konnten sie mit Karate ihre physische Befindlichkeit deutlich verbessern und erreichten lange und erfüllte Leben. Daneben hatte Karate auch einen positiven Einfluss auf die psychische Entwicklung und sie wurden jeweils zu großen Meistern des Shorin-Ryu und der Kampfkünste im Allgemeinen. Die westliche Idee des mens sana in corpore sano („gesunder Geist in gesundem Körper“), erwähnt z.B. bei dem römischen Dichter Juvenal im 1./2. Jhd. n. Chr. [10], findet hier seine Umsetzung. Auch trugen sie dazu bei, die überlieferten Kampftechniken der Frühzeit (術jap. jutsu oder jitsu, zu deutsch „Technik“) zu einem philosophischen System der Lebensführung und Kampfkunst (jap. do) weiterzuentwickeln. Der Suffix 道-do in karate-do bedeutet wörtlich „Weg“ und wird verwendet, um den philosophischen Hintergrund der Kunst und die Bedeutung als Lebensweg zu unterstreichen [13].


Das moderne Karate-Training ist häufig eher sportlich orientiert. Recht hoher Wert wird meistens auf die körperliche Kondition gelegt, sowie Beweglichkeit, Schnellkraft und anaerobe Belastbarkeit. Nicht nur aus diesem Grund fasziniert die jahrtausendealte Kampfkunst Karate auch noch in der modernen Welt. Sie konnte nach dem zweiten Weltkrieg zuerst von amerikanischen Soldaten in Japan, dann aber von allen Menschen weltweit erlernt werden. Über Hawaii sowie die amerikanische Besatzung Japans und insbesondere Okinawas fand Karate im Laufe der 1950er und 1960er Jahre als Sportart zunächst in den USA und dann auch in Europa eine immer stärkere Verbreitung. Am Ende der 1950er Jahre erreichte das Karate dann auch Deutschland, wo es seitdem in den vier großen Stilrichtungen (Shorin-Ryu) Shotokan, Wado-Ryu, Shito-Ryu und Goju-Ryu mit vielen kleineren Unterarten vertreten ist.
Mit diesen Überlegungen soll die Geschichte des Shorin-Ryu bis zum zweiten Weltkrieg abgeschlossen werden. Mit den Entwicklungen danach und die Verbreitung des Karate von Japan über USA bzw. Malaysia nach Deutschland und der Entwicklung vom dortigen Shorin-Ryu zum modernen Karate-Stil Shorin-Ryu Siu Sin Kan in Deutschland befasst sich eine andere Ausarbeitung.


Gartenanlage in Naha, Okinawa, in der Umgebung der Burg von Shuri. [B3]


Bildquellen:


[B1] - [B3], alle Aufnahmen: Horst Bresele, August 2014.


Quellenangaben:


[1] Habersetzer, Roland, Habersetzer, Gabrielle, „Enzyklopädie der Kampfkünste des Fernen Ostens“, Palisander, Chemnitz (1 2019).
[2] Lind, Werner, „Ostasiatische Kampfkünste. Das Lexikon“, Sportverlag, Berlin (1 1996).
[3] Bishop, Mark D., „Okinawan Karate (Kobudo & Te). Teachers, Styles and Secret Techniques. Expanded Third Edition“, Q&I Publications, United Kingdom (3 2017).
[4] Bishop, Mark D., „Zen Kobudo. Mysteries of Okinawan Weaponry and Te“, Charles E. Tuttle Co., Inc., Singapore (1 1996).
[5] Bishop, Mark D., „Okinawan Weaponry. Hidden Methods, Ancient Myths of Kobudo & Te“, Q&I Publications, United Kingdom (1 2009).
[6] Nagamine, Shoshin, „The Essence of Okinawan Karate-Do“, Charles E. Tuttle Co., Inc., Boston / Rutland, Vermont / Tokyo (1 1976).
[7] Nagamine, Shoshin, „Tales of Okinawa's Great Masters“, Tuttle Publishing, Boston / Rutland, Vermont / Tokyo (1 2000).
[8] Funakoshi, Gichin, „Karate-Dô Kyôhan. The Master Text“, Kodansha International, Tokyo / New York / London, (1 1973).
[9] McCarthy, Patrick, „The Bible of Karate. Bubishi“, Charles E. Tuttle Company, Rutland, Vermont / Tokyo (1 1995).
[10] https://de.wiktionary.org/wiki/mens_sana_in_corpore_sano, aufgerufen 30. Mai 2023.
[11] www.wikipedia.de, Suchbegriff „Karate“, aufgerufen 30. Mai 2023.
[12] www.wikipedia.de, Suchbegriff „Kata (Karate)“, aufgerufen 30. Mai 2023.
[13] Draeger, Donn F., Smith, Robert W., „Comprehensive Asian Fighting Arts“, Kodansha International, Tokyo / New York / London (11980) – previously published as „Asian Fighting Arts“  (1 1969).
[14] Lind, Werner, „Okinawa Karate. Geschichte und Tradition der Stile“, Sportverlag Berlin (1 1997).
[15] Demura, Fumio, „Black Belt Karate“, Ohara Publications Inc., Santa Clarita, California (14 1999).