Traditionelles Shorin Ryu Karate
  

Warum du keine Siu Sin Kan Kata auf YouTube finden wirst -
und warum das gut für dich ist

Artikel von Benjamin

 

Als ich angefangen habe, Karate zu lernen, bemerkte ich schnell, dass es auf YouTube keine Kata-Videos in meiner Stilrichtung gab und fragte mich, warum das so sein könnte. Ich habe dann mit verschiedenen Meistern gesprochen und bestätigt bekommen, dass das auch genau so gewollt ist - nicht nur bei uns im Shorin Ryu Siu Sin Kan, sondern in sehr vielen traditionellen Stilrichtungen. Das hatte mich erst gestört - heute bin ich dankbar dafür, da es eine Philosophie gibt, die ich daraus ableiten kann und die ich auch für mein Karate nutzen kann.


Die Kata als Werkzeugkoffer

Eine Kata ist ein Werkzeugkoffer, eine Abfolge von Techniken in verschiedenen Kombinationen. Wenn man jedoch alle Techniken eines Meisters in seinem Werkzeugkoffer hat, aber noch nie mit ihnen gearbeitet hat, dann hat man einen randvollen Koffer und findet das nötige Werkzeug nicht, wenn man etwas "reparieren" muss.  Bei einem Werkzeugkoffer ist das nur lästig. Beim Kämpfen kann das jedoch unter Umständen die Unversehrtheit meiner eigenen Nase kosten. 


Daher empfehle ich, sich auf das zu konzentrieren, was man tut und sich dessen bewusst zu sein, anstatt sich der mentalen Fast-Food-Kultur der heutigen Gesellschaft hinzugeben.

In unserer Stilrichtung werden Kata in einer bestimmten Reihenfolge beigebracht und meistens dann, wenn ein Meister der Meinung ist, dass der Schüler bereit dafür ist. 

Wenn ich als Schüler  das Vertrauen mitbringe, bei jemandem in die Lehre zu gehen und Karate zu lernen, sollte ich auch das Vertrauen haben, dass diese Person weiß, was ich bereits sinnvoll erlernen kann. In unserer Stilrichtung werden manche Katas auf speziellen Ereignissen unterrichtet, was sie zu einem besonderen Geschenk des Lehrers macht. 


Kata, Verfügbarkeit und Psychologie

Der psychologische Hintergrund, warum traditionelle Stilrichtungen keine Kata-Videos im Netz haben, ist interessant. Wenn die Kata frei auf YouTube verfügbar sind, hat das für den Lernenden oft keinen großen emotionalen Wert. Unterbewusst weiß das Gehirn, dass man sich die Kata jederzeit auch selber auf YouTube beibringen kann. Daher schaut man dem Lehrer zwar zu, aber gibt unterbewusst nicht den vollen Fokus hinein. Unser Gehirn bewertet Dinge nach ihrem emotionalen Wert und speichert sie dann ab, wenn dieser hoch ist. Ein reines Nachmachen der Bewegungsfolgen aus einem Video ist auch nicht mit der Vermittlung einer Kata von einem Meister zu einem Schüler vergleichbar.


Wenn man jedoch etwas mit ein bisschen Knappheit versieht und zum Beispiel, nur einmal im Jahr die Möglichkeit hat, diese Form zu lernen, dann wird das mit einer ganz anderen Hingabe und Begeisterung gelernt.
Es gibt hier kein Richtig oder Falsch. Es kommt darauf an, welcher Charaktertyp man ist. Wenn ich der Typ bin, der Techniken mit Videos vertieft, ist das legitim, – sofern ich mir immer wieder Ratschläge von einem Meister einholen kann. Wenn ich mir jedoch Techniken verdienen möchte um einen emotionalen Wert zu schaffen und etwas intensiv in Kontakt mit anderen Menschen vertiefen möchte, sollte ich das Vertrauen haben, dass mein Trainer mir meine Fragen beantwortet und mich so auch einen Schritt näher an das Meistern und Verstehen bringt. Das Fragen ist auch eine Wertschätzung für seine Arbeit und die Antwort im Gegenzug die Wertschätzung für den eigenen Fortschritt.


Es gibt Vorteile, Kata-Videos zu haben. Aber es hat auch Vorteile, wenn etwas nicht einfach so geht. Die dauerhafte Verfügbarkeit von Informationen und Content sorgt tatsächlich für eine Entwertung von Content und Wissen. Dinge, die man sich verdienen muss, betrachtet man unterbewusst mit einer ganz anderen Werthaltung.


Erkenne dich selbst

Ich denke, dass es wichtig ist, sich bewusst zu sein, welche Art von Lernender ich bin und was ich von meinem Karate-Training erwarte. Wenn ich der Typ bin, der gerne selbstständig lernt, dann sind Videos eine gute Option für mich. Allerdings fehlt mir dann ein wesentlicher Aspekt des Karate-Trainings der
letzten Jahrtausende: die Weitergabe des Wissens von meinem Meister / Trainer auf mich unter Berücksichtigung aller Aspekte der Kampfkunst. 

Es gibt kein Richtig oder Falsch, nur das, was zu mir passt oder nicht passt. Ich denke, es ist wichtig, sich auf das zu konzentrieren, was man tut und bewusst dabei zu sein. Also bewusster Genuss und kein Fast-Food

 

Karate ist eine Lebensphilosophie, und es geht nicht nur um die Techniken, sondern auch um die Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen. Indem ich mich auf das konzentriere, was ich tue, und mein Training bewusst gestalte, kann ich das volle Potenzial meines Karate-Trainings ausschöpfen.